Sie lesen gerade: Nah am Menschen sein dürfen

Nah am Menschen sein dürfen

Eine Krebserkrankung ist nicht nur für den Körper einschneidend, sondern hat auch enorme Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden. Patientinnen und Patienten, die aufgrund einer Krebserkrankung in die Rehaklinik Basel von ZURZACH Care kommen, haben oft einen langen Leidensweg hinter sich und benötigen psychoonkologische Betreuung. Wir haben mit Andreas Dörner, Leiter Psychologische Dienste am St. Claraspital, gesprochen.

Lieber Andreas, die psychoonkologische Betreuung ist Bestandteil der internistisch-onkologischen Rehabilitation an der Rehaklinik Basel von ZURZACH Care. Wie sieht diese aus?

Glücklicherweise ist die Rehaklinik Basel räumlich ins St. Claraspital integriert. Daher können wir Patientinnen und Patienten durch eine Hand von der Diagnose im Akutspital bis zur Rehabilitation in der Rehaklinik begleiten. Die psychoonkologische Betreuung ist fest im Rehabilitationsplan verankert, genauso wie z.B. die Physiotherapie. In der Regel bleiben Patientinnen und Patienten für 2-3 Wochen in der stationären Rehabilitation. Dann haben sie meist 2-3 Sitzungen bei uns, können aber auch danach noch ambulant Termine bei uns wahrnehmen. Dies ermöglicht uns eine Betreuung über den stationären Aufenthalt hinaus.

Wie unterscheiden sich die einzelnen Therapiemöglichkeiten?

Patientinnen und Patienten können Angebote der Kunst- oder Musiktherapie oder aber auch Gespräche in Form von psychologischer Betreuung oder Seelsorge wahrnehmen. Dies kommt ganz auf ihre Bedürfnisse an. Viele Betroffene wollen das Erlebte durch ihre Erkrankung oder Behandlung in Gesprächen verarbeiten und/oder benötigen Hilfe, um die völlig veränderte Situation und den neuen Alltag zu akzeptieren. 
Die Musiktherapie verläuft aktiv, wo die Betroffenen selbst Musik spielen können – es gibt im Claraspital ein Musikzimmer – oder aber passiv z.B. in Form von Klangschalentherapie oder Stimmgabeln. Dadurch soll der Körper in einen Entspannungszustand gelangen. Viele Betroffene sind durch ihre Erkrankung und die gegebenen Umstände sehr angespannt und verspannt. Auch durch das gemeinsame Hören der Lieblingsmusik in der Musiktherapie sollen innerliche Blockaden gelöst werden.
In der Kunst- bzw. Maltherapie können Betroffene ihre Erlebnisse und Gedanken verbildlichen und ihre Emotionen zum Ausdruck bringen. So malen sie z.B. den Krebs zunächst als bedrohliches Monster. In einem weiteren Schritt geht es darum, dieses Monster zu zähmen, indem es weniger bedrohlich gemacht wird, ihm beispielsweise ein Hut aufgesetzt wird. So können Betroffene die Bedrohung des Körpers mental bewältigen.

Die Erkrankung ist für Betroffene somit sowohl eine körperliche als auch mentale Herausforderung?

So ist es. Meistens kommen Patientinnen und Patienten nach einer Chemotherapie oder Operation zu uns. Der Körper ist geschwächt, die Mobilität eingeschränkt. Das müssen Betroffene erst mal akzeptieren. Der Körper stand bisher immer zur Verfügung, jetzt nicht mehr. Das löst Frust und Ohnmacht aus. Wer z.B. immer eine gebende Rolle hatte und sehr aktiv war und sich jetzt plötzlich stark zurücknehmen muss, steht vor einer neuen Situation. Man kann aber mit dem geschwächten Körper in den Dialog treten, die Schwäche annehmen und in einer gewissen Abhängigkeit trotzdem seine Autonomie erkennen. Das ist ein wichtiger mentaler Prozess, aber das braucht Zeit.
Andere Themen betreffen die Familienangehörigen. Es geht dann vielleicht darum, dass der Ehemann nicht versteht, warum man traurig oder zurückweisend ist oder die Kinder nicht verstehen, wieso diese oder jene Aktivitäten plötzlich nicht mehr gehen. Es ist einfach nicht mehr wie vorher und dies löst oft grosses Unbehagen und Unsicherheit aus.

"Oft stellt sich die Frage, was nun essentiell ist."

Eine Krebserkrankung ist demnach auch immer mit Fragen nach der eigenen Identität verbunden?

Ja, eine Krebserkrankung verändert das bisherige Leben oder die bisherige Rolle im sozialen Alltag und Beruf. Wir arbeiten mit dem biopsychosozialen Modell, das davon ausgeht, dass eine Krankheit nicht nur rein körperlich und isoliert besteht, sondern die körperliche, psychische und soziale Ebene aus dem Gleichgewicht bringt. 
Aber so hart es klingt, es kann auch eine Chance sein. Die eigenen Werte können überdacht, verlagert und verschärft werden. Oft stellt sich die Frage, was nun essentiell ist. Meist sind es Beziehungen und die Familie. Oder man erkennt plötzlich, dass die bisherige Arbeit, die man jahrelang ausgeführt hat, kontraproduktiv war. Es geht also nicht nur darum, in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht auf die Beine zu kommen, sondern generell darum, welche Werte wichtig sind und wie das Leben künftig weiterlaufen soll. 

Also geht es um grundsätzliche und essentielle Wertvorstellungen?

Genau. Es geht um Weiterentwicklung. Wir hatten hier mal einen Fall. Eine Frau ist kurz vor ihrer Pensionierung an Krebs erkrankt und konnte nicht mehr arbeiten, sie hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. In ihrer Kindheit waren Arbeiten und Leistung ganz wichtige Familienwerte. Sie konzentrierte sich dann auf ihre Genesung und wurde glücklicherweise wieder gesund. Sie erkannte aber, dass ihre bisherige Einstellung zur Arbeit ihr nicht gut getan hat. Sie wollte nun mit ihrem Ehemann auf Reisen gehen und mit ihm gemeinsam noch vor dem offiziellen Ruhestand das Leben geniessen. Als sie mit ihrem Mann und den gepackten Koffern vor dem Haus stand, wäre sie vor Scham gerne im Erdboden verschwunden. Was denken wohl die Nachbarn jetzt? Sie war wieder gesund. 
Der Wunsch, zu leben, etwas zu verändern und das Leben geniessen zu dürfen, wird mit einer Erkrankung gross, er soll aber auch danach bestehen bleiben.

Vielen Dank für diese spannenden und sehr wichtigen Aussagen. Möchtest Du zum Abschluss noch sagen, was Du an Deiner Arbeit schätzt?

Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir eine Konstante für Patientinnen und Patienten sind und sie von Anfang an begleiten dürfen. Noch schöner ist es für uns zu beobachten, wie Betroffene versuchen etwas Positives aus ihrer Situation und Erkrankung zu ziehen, wie sie ihre Gedankenwelt aufschliessen und mental reifen. Diese Erfahrung ist nicht nur gewinnbringend für sie selbst, sondern oft auch für andere Betroffene. Für uns ist es wertvoll, nah am Menschen sein zu dürfen und noch schöner zu sehen, wenn die Bewältigung der Krankheit sowohl auf körperlicher als auch mentaler Ebene gelingt.

Andreas Dörner, Leiter Psychologische Dienste
Andreas Dörner, Leiter Psychologische Dienste im St. Claraspital Basel