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Verständnis chronischer Schmerzen als Grundlage der Therapie

Geschrieben von Joachim Karl Benedikt | 14.11.2022 08:28:51

Schmerz, Schlaf und Psyche stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Störungen in jedem einzelnen Teilbereich können Menschen in ihrer Lebensführung beeinträchtigen. Oft werden die Ursachen für psychische und körperliche Probleme erst ersichtlich, wenn wir sie gemeinsam betrachten. Psychische und psychosomatische Erkrankung sind in der Schweiz weit verbreitet. Auch körperliche Erkrankungen wie ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall können zu psychischen Problemen führen. Gerade im Bereich der Schmerzmedizin sei ein Umdenken notwendig, meint der Standortleiter der Rehaklinik Zollikerberg, Joachim Karl Benedikt: «Schmerz beginnt im Prinzip im Kopf. Man muss Patientinnen und Patienten nahebringen, wo genau dieser Schmerz entsteht und weshalb. Da spielen extrem viele verschiedene Faktoren eine Rolle, die berücksichtigt werden müssen.»

Akute Schmerzen sind nachvollziehbar

Schmerzempfindung ist ein komplexer Vorgang, der nur im Fall des akuten Schmerzes durch die Reizung von peripheren Neurorezeptoren mit Reizübertragung zum zentralen Nervensystem relativ einfach erklärt werden kann. Bei akuten Schmerzen, zum Beispiel nach einer Verletzung, ist der Zusammenhang zwischen Schmerzursache und Schmerzempfindung für den Betroffenen nachvollziehbar. Er reagiert in der Regel sofort selbst darauf, indem er die Ursache selbst beseitigt oder dafür professionelle Hilfe in Anspruch nimmt. Für diese Fälle gibt es klare Lösungen und Therapiemöglichkeiten, die der Betroffene verstehen und nachvollziehen kann. Hier erfüllt der Schmerz erkennbar seine eigentliche Aufgabe Gefahr zu melden und eine adäquate Reaktion einzufordern.

Schmerzchronifizierung ist eine Herausforderung

Schwierig wird es, wenn sich das Schmerzempfinden im Falle von chronischen Schmerzen von diesem Schema abkoppelt und ein Eigenleben beginnt. Der Betroffene kann die Ursache der Schmerzen nicht verstehen und sucht Hilfe. Ab diesem Punkt sind medizinische und therapeutische Fachspezialistinnen und -spezialisten gefordert, Licht ins Dunkle zu bringen.

Der Begriff des „Nozizeptors“ ist zu überdenken, denn auf Rezeptorebene werden lediglich mechanische, chemische oder thermische Reize in elektrophysiologische Signale umgesetzt. Ob diese Reize als Schmerz anerkannt werden oder nicht, entscheidet sich erst im Rahmen der Weiterverarbeitung der Reize im Gehirn. Jeder periphere Reiz muss auf dem Weg zum Gehirn einige Filter passieren, um überhaupt zum Ziel zu gelangen, es gelingt nur einem Bruchteil. Dennoch prasseln ständig tausende Informationen aus der Körperperipherie auf das Gehirn ein, die verarbeitet werden müssen. Hinzu kommen mindestens genauso umfangreiche Informationen aus Gehirnarealen, in denen Erfahrungen, Emotionen und erlerntes Wissen abgespeichert sind. Erst wenn das Gehirn nach Verarbeitung der Summe aller dieser Informationen zu dem Schluss kommt, dass eine Bedrohung für den Betroffenen besteht, wird Alarm ausgelöst und in der Folge unter anderem Schmerz empfunden.

Plastizität des Gehirns als Ursache chronischer Schmerzen

Bei der Entstehung chronischer Schmerzen spielt die Plastizität des Gehirns eine zentrale Rolle. Darunter versteht man die Fähigkeit der Neuronen im Gehirn permanent neue synaptische Verknüpfungen zu bilden und auch wieder zu lösen. Diese Fähigkeit liegt beispielsweise auch dem Erlernen motorischer Bewegungsmuster zugrunde. Durch Fortschritte der funktionellen MRI-Technologie ist es der neurophysiologischen und -psychologischen Forschung gelungen, sichtbar zu machen, dass bei Schmerzwahrnehmungen nicht nur der primäre sensorische Kortex im Gyrus postzentralis, sondern Neurone und Kerngebiete in über den gesamten Bereich des Gehirns liegenden verschiedenen Arealen aktiviert sind. Deren exakte Funktionen sind zu grossen Teilen noch ungeklärt.

Chronischer Schmerz tritt auf, wenn das Gehirn eine Bedrohung für das Individuum erkannt hat oder zu erkennen glaubt. In Reaktion auf diese vermeintliche Bedrohung bilden sich zwischen den beteiligten Gehirnanteilen neuronale Vernetzungen, die diese Schmerzempfindung in Dauerschleife aufrechterhalten. Im Gegensatz zum akuten Schmerz fehlt eine klar definierte und objektiv belegbare Ursache. Die Folge: Die Betroffenen und teilweise auch Ärzte und Therapeutinnen stehen dem Phänomen chronischer Schmerzen ratlos gegenüber. Seitens der Ärzteschaft führt das Bestreben, den Patientinnen und Patienten zu helfen, häufig zu Kaskaden verschiedener Untersuchungen mit dem Ziel, eine objektive Ursache zu finden.

Lösungsansatz: Behandlung auf Augenhöhe

Es gilt die Fixierung des Patienten oder der Patientin sowie der Behandelnden auf den Nachweis einer objektiven Schmerzursache zu überwinden und zu akzeptieren, dass chronischer Schmerz auf einer neuronalen Vernetzung im Gehirn als Antwort auf eine individuell empfundene Bedrohung beruht. Die Suche nach einem objektiv abgrenzbaren Schmerzauslöser führt bei chronischen Schmerzen nicht zum Ziel.

Die Anzahl der beim chronischen Schmerz involvierten Gehirnanteile legt nahe, dass nicht nur äussere Reize zur Entstehung der Schmerzen beitragen, sondern auch individuell unterschiedliche neuropsychologische Veranlagungen und Kontextfaktoren der Betroffenen eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel:

  • Soziale, familiäre und berufliche Situation
  • Somatische und psychologische Traumatisierungen
  • Selbstwertgefühl / Selbstbild, Autoaggression
  • Kulturelle Einflüsse
  • Geschlechtsspezifische Einflüsse

Um dies erfolgreich bearbeiten zu können, ist ein tragfähiges Vertrauensverhältnis auf Augenhöhe zwischen Betroffenem und Ärztinnen und Therapeuten erforderlich. Der Betroffene trägt den Schlüssel zur Lösung seines Schmerzproblems in sich, ist aber ohne Hilfe nicht in der Lage ihn zu finden. Die gute Nachricht: Chronischer Schmerz ist eine plastische Reaktion des Gehirns auf äussere Reize auf der Basis individuell vorhandener neuropsychologische Anlagen. Diese Plastizität kann umgekehrt genutzt werden, die schmerzunterhaltenden neuronalen Regelkreise wieder abzubauen. Es gilt die Reize und Massnahmen zu finden, die den Umbau im individuellen Fall in die richtige Richtung lenken.

Behandlung muss interdisziplinär sein

Es ist Aufgabe der Behandelnden, den Betroffenen bei der Suche nach dem Schlüssel zur Schmerzbewältigung zu unterstützen. Angesichts der Vielfalt der Variablen, die den Schmerz beeinflussen, liegt es auf der Hand, dass das in der Regel nicht durch eine einzige Fachperson geleistet werden kann, sondern Teamarbeit verschiedener Fachbereiche erfordert. Dazu gehören unter anderem: Psychiatrie und Psychologie, Somatische Medizin, Ergotherapie, Physiotherapie und der Sozialdienst.